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Besucherlenkung: Der Elefant im Raum und 5 Ideen für deine Destination

Besucherlenkung, Lebensraum, Nachhaltigkeit

Anna Scheffold16. Feb 2023

Wohin fährst du am liebsten in den Urlaub? Wie bewegst du dich dort fort? Viele Menschen schwärmen an dieser Stelle von heimeligen Altstadtgassen, wo man sorgenlos zu Fuß unterwegs sein kann. Oder von der Ruhe und guter Luft bei einer E-Bike-Tour in der Natur. Familien mit kleinen Kindern lieben Konzepte wie Center Parcs oder Campingplätze, wo man die Kleinen einfach mal springen lassen kann.

Was diese Dinge gemeinsam haben? Es sind in der Regel autofreie Räume. Und die tun uns Menschen unglaublich gut. Gute Luft, Sicherheit, Ruhe – menschliche Grundbedürfnisse, die für Entspannung sorgen. Entsprechend bilden wir genau diese Momente übrigens gerne in der touristischen Kommunikation ab.

Und doch haben wir seltsamerweise viele Orte, in denen wir immer wieder dem Gegenteil begegnen. Überfüllte Straßen im Winter am frühen Samstagmorgen auf dem Weg ins Skigebiet. Im Sommer zugeparkte Straßenränder an den Badestränden und Wanderparkplätzen der Republik. Der tägliche Stau auf dem Weg ins Büro. Oder am Freitagmittag auf so ziemlich jeder Autobahn.

Was also tun? Parken effizienter gestalten mit mehr Parkplätzen, damit es wieder läuft? Oder noch eine Straße bauen, damit der Stau abnimmt? Kapazität erhöhen. Effizienter werden. Sensorik installieren und per App die Leute dahin leiten, wo noch was frei ist.

Foto: Greg Snell

Lieber nicht. „Wer Straßen sät, wird Stau ernten“, ein längst erforschter Zusammenhang der Verkehrsforschung. Oder anders gesagt: Angebot schafft Nachfrage.

In unseren aktuellen Projekten rund um Nachhaltigkeit, Lebensraum und Besucher*innenlenkung gibt es ein gemeinsames Thema, das überall Sorgenfalten und Fragezeichen verursacht. Weil es so groß und so systemisch ist und damit so unlösbar scheint. Sei es bei der Begleitung des Touristischen Entwicklungskonzepts in Lübeck-Travemünde, bei der nachhaltigen Destinationsentwicklung an Tegernsee und Schliersee oder der Entwicklung eines strategischen Ansatzes zum Besucher*innen-Management in der Zugspitz Region.

Der motorisierte Elefant im Raum

Lasst uns also mal über den Elefant im Raum reden: das Auto (oder auch: der motorisierte Individualverkehr, kurz MiV). Wenn wir über nachhaltige Destinationsentwicklung und Besucher*innen-Management sprechen, dürfen wir nicht länger ignorieren, dass das Auto und der daraus resultierende Verkehr vielerorts ein Problem ist. Und es ist übrigens egal, ob dieses Auto mit Diesel, Benzin oder Ökostrom betrieben wird. Sie alle brauchen Platz.

Deutschland ist ein Autoland. Manche Menschen macht das stolz. Sie verbinden damit die Ingenieurleistungen der Vergangenheit und zahlreiche Arbeitsplätze in der Autoindustrie. Inzwischen ist das aber eher ein Problem, das aus dem Ruder gelaufen ist. Was eben so passiert, wenn man seit den 1950er Jahren konsequent ein Verkehrsmittel bevorzugt.

Die Grenzen des Wachstums sind da – ökonomisch, ökologisch und sozial. Autos verbrauchen Fläche, sorgen für schlechte Luft und der Ausbau von Autoinfrastruktur zerstört Ökosysteme.

Trendwende hin zu einer nachhaltigen Entwicklung der Verkehrssektors? Seitens des Bundesverkehrsministerium auch 2023 leider Fehlanzeige. Es ist irgendwo zwischen erschreckend und traurig, dass es überhaupt eine Städteinitiativen geben muss, die dafür kämpfen, Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen zu können, um diese lebenswerter zu machen. Bislang dürfen Kommunen das nur in Ausnahmen.

„Und wo genau liegt das Problem für meine Destination?“

„Autos sind doch gar kein Problem bei mir…“ (Foto: Greg Snell)

Klar, es gibt Regionen, die sich über mehr Gäste freuen würden. Egal, wie diese anreisen. Und dann gibt es Regionen mit Schlagzeilen wie „Besucheransturm sorgt für Verkehrschaos“, „Schönes Wetter lockt Menschen – Einheimische genervt“ oder „Freizeitkollaps“.

Machen wir doch mal den Test. Wie viele der folgenden Orte und Regionen sind dir in den vergangenen Monaten in der Presse aufgefallen? Der Tegernsee, der Eibsee und Zugspitze, der Timmendorfer Strand, der Nationalpark Schwarzwald, die Wasserkuppe in der Rhön, das Allgäu, … fällt dir vielleicht noch einer ein?

Nun sagen einige vielleicht, dass das ja eine Corona-Ausnahmeerscheinung war und vieles wieder entspannter ist. Und klar ist nicht jeder Tag das volle Chaos. Aber es gibt dennoch ein paar Zahlen, die wir uns in diesem Kontext anschauen müssen, um die zukünftige Lage zu erfassen.

Wenig überraschend ist das Auto die beliebteste Mobilitätsform der Deutschen. Die Zahl der Autos pro Haushalt ist in Deutschland weiter im Aufwärtstrend. Im Bundesverkehrswegeplan geht man von einem Zuwachs im Pkw-Bestand im gesamten Bundesgebiet von 42,3 Mio. (2010) auf 45,9 Mio. im Jahr 2030 aus. Und die sorgen erfahrungsgemäß für mehr Verkehr (auch wenn Autos im Schnitt 23 Stunden am Tag nur herumstehen).

Was das mit dir und deiner Region zu tun hat? Der Urlaubs- und Freizeitverkehr hatte im Jahr 2019 mit rund 40,7 % den größten Anteil an der ⁠Personenverkehrsleistung. Sprich: viele Menschen bewegen sich fort, um Ausflüge zu unternehmen oder in Urlaub zu fahren. Und wenn viele Menschen ein Auto haben, ist dies auch eher das bevorzugte Verkehrsmittel der Wahl, insbesondere für Tagesausflüge. Es steht schließlich vor der Garage, ist bequem und der Tank im Idealfall schon gefüllt. Keine Wartezeit, keine nervigen Mitreisenden und genügend Stauraum für Rucksack, Tourenski oder ein paar Snacks für später.

Die Frage die du dir also stellen solltest: Ist es für dich, deine Destination und ihre Einwohner*innen machbar, wenn in Zukunft noch mehr Menschen mit dem Auto kommen?

Besucher*innen-Management weg vom Auto: 5 Ideen für deine Destination

Aktuell sprechen wir im Kontext Besucher*innenlenkung und Auto häufig von der Idee, Verkehrsräume mit entsprechender Sensorik auszurüsten, um Menschen in ihren Autos dann besser lenken zu können. Ob die dahinterliegende Hypothese stimmt, dass Menschen grundsätzlich empfänglich für eine solche Lenkung sind, werden die entsprechenden Modellprojekte zeigen.

Aber was, wenn es so oder so einfach zu viele Autos sind? Sollten wir dann nicht lieber Mobilität und Erlebnisse so gestalten, dass Freizeit- und Lebensräume zukunftsfähig werden? Gerade mit Hinblick auf das 49 Euro Ticket gilt es ohnehin, Chancen zu ergreifen.

Denk es doch mal aus Perspektive deiner Gäste: Was, wenn die Angebote so gestaltet sind, dass die Gäste weder mit dem Auto kommen müssen noch wollen? Wenn die Erlebnisse so gut gestaltet sind, dass wir gerne aufs Rad steigen, den Bus nehmen oder ein paar Schritte zu Fuß gehen? Oder wenn die Fortbewegung sogar zum Erlebnis wird – siehe Carsharing und Panorama-Züge (Grüße in die Schweiz).

Daher hier….5 Ansätze aus Produktentwicklung und Kommunikation zum Nachmachen und Weiterentwickeln.

1 Unterkunft als zentraler Touchpoint

Die Unterkunft ist der zentrale Kontaktpunkt für die meisten Gäste im Urlaub. Und dort ist entsprechend der größte Hebel. Wie viele der Unterkünfte in deiner Destination informieren auf ihrer Website wirklich gut die ÖPNV-Anreise? Wird nur auf die Suche bei der Deutschen Bahn verwiesen oder tatsächlich über die nächste Bahn- oder Busstation informiert? Bietet die Unterkunft einen Shuttle an? Häufig ist die letzte Meile das Problem – nicht die 500 km davor.

DMOs sind hier gefragt, die Unterkünfte zu unterstützen, z.B. mit standardisierten Materialien oder Textbausteinen sowie Austauschrunden. Wer eine Gästekarte mit kostenlosem ÖPNV anbietet, muss den Kontaktpunkt Rezeption und Frühstückstisch perfekt nutzen. Was hilft es, wenn Hotelmitarbeitende auf die Parkplätze am See verweisen, obwohl ein Bus fährt?

Noch besser: Sei mutig und rufe geeignete Projekte für den Lückenschluss ins Leben, anstatt über fehlende Busverbindungen zu jammern. Der Rufbus EMMI in Bad Hindelang hat völlig zurecht einige Preise für das gelungene Konzept gewonnen und findet bundesweit Nachahmer*innen. Denn das Angebot gilt für Gäste und Einheimische gleichermaßen und löst damit mehr als nur eine Problemstellung.

2 Fahrradinfrastruktur professionalisieren

Fahrradfans happy machen mit der richtigen Infrastruktur (Foto: Greg Snell)

Angebot schafft Nachfrage. Das gilt nicht nur bei Autos, sondern auch bei Rädern. Das zeigt die Infrastruktur in den Niederlanden oder auch Pop-up-Radwege während Corona. Radinfrastruktur ist aber noch mehr. Auch Räder brauchen Abstellmöglichkeiten, E-Bikes zudem Ladeinfrastruktur.

Und die sollte entsprechend der Bedürfnisse der Radfahrenden gestaltet sein.

Mein liebstes Beispiel in diesem Kontext: an einem regnerischen Tag vor einem Freizeitbad lehnten die meisten Räder direkt an der Wand unter einem Vorsprung. Darüber ein Schild „hier keine Räder abstellen“. Wenige Meter daneben: die nicht überdachten und im Regen verwaisten Abstellflächen für Räder.

Noch Fragen?

3 Produktplanung nach Fahrplan

Wo beginnen die meisten deiner Wanderwege? Vermutlich an einem Schotterparkplatz, oder? Um alternative Mobilität zu fördern, müssen solche Angebote auch von Anfang an so geplant werden. Also Etappenwanderwege am besten von Bahnstation zu Bahnstation planen, um die Nutzung so einfach wie möglich zu machen.

Auch hier gilt: Das ist keine leidige Alternative, sondern bestenfalls ein echtes Erlebnis. Die Kombination von Wandern und ÖPNV kann ganz neue Routen möglich machen, die als Rundweg nicht gegangen werden können.

Das muss sich in der Kommunikation entsprechend fortsetzen. Interessierte sollten so einfach wie möglich erkennen, wie sie das Ausflugsziel per Bus und Bahn erreichen. Dafür hilft es nicht, die Leute zu ermahnen, per ÖPNV anzureisen. Zeig im Detail, welche Buslinie wann fährt, ob man Kinderwagen oder Räder mitnehmen kann und ob der Umstieg zur Regionalbahn gut klappt. In jeder Instastory, auf deiner Website, in deinen Flyern und Wanderkarten.

4 Erwünschtes Verhalten belohnen

Man kann Menschen für nicht-erwünschtes Verhalten bestrafen, z.B. in Form von Strafzetteln bei Falschparker*innen. Aber warum nicht mal andersherum? Denn positive Erlebnisse motivieren uns mehr und passen zudem viel besser zum Urlaubsgefühl.

Wie wäre es zum Beispiel mit einem Freigetränk oder Nachlass auf den Eintritt bei der Anreise ohne Auto? Insbesondere wenn man beachtet, welche Kosten der Unterhalt von Parkflächen verursacht, kann das eine wirtschaftlich attraktive Option sein. Und ganz nebenbei schafft man Gästen das positive Gefühl, etwas geschenkt zu bekommen und erhöht so im Idealfall die Zufriedenheit.

5 Shuttle statt Straßenrandparken

Beim Thema autofreie Zonen bekommen einige direkt Sorgenfalten auf die Stirn (oder Zornesröte im Gesicht). Dabei ist das insbesondere im touristischen Kontext gar nicht so neuartig oder ungewohnt. Juist, Zermatt oder auch die Center Parcs machen das seit Langem vor, dass Autos gar nicht oder nur begrenzt genutzt werden dürfen.

Was spricht also dagegen, zu besonders beliebten Ausflugszielen oder Ausgangspunkten von Wanderungen Shuttles einzusetzen? Siehe Beispiel EMMI in Bad Hindelang, das weiter oben bereits erwähnt wurde.

Auf Juist ist der Shuttle für viele sogar ein relevanter Teil des Erlebnisses. Per Pferdekutsche oder Rad mit Anhänger geht es von der Fähre zur Ferienwohnung. Für viele Gäste beginnt genau ab diesem Moment der Urlaub.

Und ein weiteres gutes Beispiel ist das Pilotprojekt Münchner Bergbus des Alpenvereins München & Oberland 2021 und 2022. 2022 wurden in 93 Fahrten insgesamt ca. 2300 Personen transportiert und damit schätzungsweise 1640 Pkw-Fahrten eingespart.

Lebensraum für Menschen statt Autos

Lebensraum heißt: Menschen im Vordergrund (Bild: Greg Snell)

Das mit der Verkehrswende wird nicht einfach. Man kann keine Busse herzaubern und noch viel weniger die Menschen, die diese Busse fahren. Gespräche mit Verkehrsanbietern sind nervenaufreibend. Und so manche*r Einwohner*in möchte weiterhin direkt vor dem Restaurant, dem Bäcker oder am Waldrand parken für die morgendliche Hunderunde. Diese Gewohnheiten prägen den Verkehrsraum wesentlich und beeinflussen damit auch das Verhalten der Gäste, die sich im Grunde ja nur „wie ein Local“ verhalten.

Aber zum Glück müssen wir nicht gleich den ganzen Knoten durchschlagen. Deutschland hat seit über 70 Jahren daran gearbeitet, dem Motto „freie Fahrt für freie Bürger“ gerecht zu werden. Das ändert sich nicht von heute auf morgen. Aber um beim obigen Bild des Elefanten zu bleiben, bemühe ich hier mal ein Sprichwort: „Wie isst man einen Elefanten? Stück für Stück.“

Was klar ist: wer es mit dem Lebensraum und der Nachhaltigkeit ernst meint, muss konsequent über andere Mobilität nachdenken. Eine, die lebenswerte Regionen für Gäste, Einheimische und zukünftige Generationen schafft. Genau hier sollte ein ganzheitliches Besucher*innen-Management ansetzen und neue Wege aufzeigen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

 

PS: Danke, dass du meinen Gedanken bis hierhin gefolgt bist! Wenn du mehr zum Thema Verkehrswende lesen möchtest, empfehle ich dringend das Buch „Autokorrektur“ von Katja Diehl.

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Anna Scheffold Beratung | Strategie | Experience Design

Als Beraterin für Strategie und Experience Design helfe ich dir, Produkte und Services zu schaffen, die deine Kund*innen lieben. Mit viel Kreativität und einem großen Herz für Nachhaltigkeit. Gemeinsam erarbeiten wir, wo der Schuh drückt und welche Chancen sich daraus ergeben. Anschließend entwickeln wir Strategien sowie Produkte und Services, die eine ganzheitliche Erfahrung herstellen. Ich begleite dich dabei vom großen strategischen Blick und – wenn du magst – bis in die Umsetzung der Maßnahmen, die sich daraus ergeben.

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